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Fotodokumentationen

Zigarettenverband setzt Marianne Tritz vor die Tür

EU-Gesundheitskommissar Dalli durch Tabakfirma aus dem Amt gedrängt

[03.11.2012/pk] Im Jahr 2008 war Marianne Tritz als Geschäftsführerin des neu gegründeten Deutschen Zigarettenverbands (DZV) angetreten, um einem mörderischen Industriezweig mit Ekel-Image einen grünen Anstrich zu verpassen. Die Politik von Bündnis '90/Die Grünen steht nicht nur für Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein, sondern auch für moralische Integrität, soziale Verantwortung und nachhaltiges Wirtschaften.

Alle diese Eigenschaften wollte sich die Tabakindustrie gerne selbst auf die Fahne schreiben, um ihr Mörder- und Schmuddel-Image zu übertünchen. Das Aushängeschild dafür sollte Marianne Tritz sein, die sich unter anderem als Castor-Gegnerin einen Namen gemacht hatte. Vor ihrem plötzlichen Seitenwechsel war Tritz Vorstandsreferentin des Grünen-Fraktionschefs Fritz Kuhn, der "in Deutschland den Kampf gegen das Rauchen voran" treibt. Dem Zigarettenverband sollten die guten Kontakte von Marianne Tritz in die Politik nutzen. Mit ihrem nahtlosen Wechsel vom Bundestag zur Tabaklobby sollte die gut vernetzte und als "Einfädlerin" bekannte Tritz der Tabakindustrie neue Hintertüren in die Politik eröffnen.

Nach vier Jahren Tätigkeit für den DZV tauchten jedoch bereits im September durch ihre Abwesenheit auf der Inter-tabac Gerüchte auf, Tritz hätte "zu dem Zeitpunkt teilweise die Rückendeckung von Mitgliedsfirmen verloren". Während der Zigarettenverband dies noch als unzutreffende Spekulationen dementierte, verbreiteten die Stuttgarter Nachrichten bereits weitere Informationen. Demzufolge waren die Mitgliedsfirmen mit der Arbeit von Tritz "höchst unzufrieden", da der Verband unter ihrer Führung "keine überzeugende Strategie zur Abwehr weiterer Regulierungsschritte aus Brüssel entwickelt hat".

Nun ist es offiziell: der Deutsche Zigarettenverband hat sich zum 30. Oktober 2012 von Marianne Tritz getrennt. Der Tabaklobbyverband äußerte dazu, sich "neu aufzustellen" und sich in der nahen Zukunft verstärkt der "Überarbeitung der Europäischen Tabakproduktrichtlinie" zuzuwenden. Bis der Lobbyverband sich in Ruhe einen neuen Geschäftsführer gesucht hat, wird sich ein Übergangskandidat um die "Bearbeitung" deutscher und europäischer Politiker kümmern.

In der Ablösung von Marianne Tritz manifestiert sich das Scheitern der Tabaklobby im Kampf um ein umweltfreundliches und soziales Image. Die mit der Gründung des DZV angekündigte Transparenz hat sich als leere Marketingphrase erwiesen. Wie zuvor beim alten Verband der Cigarettenindustrie (VdC) liefen die Gespräche mit Politikern hinter verschlossenen Türen und auf exklusiven Veranstaltungen ab, zu denen weder die Presse noch die Öffentlichkeit Zugang hatte.

Die Ankündigung des DZV, sich ohne Marianne Tritz neu aufzustellen, kann als klare Androhung einer härteren Gangart verstanden werden. Das persönliche Scheitern der DZV-Geschäftsführerin sollte also keinesfalls zur Annahme verleiten, die Tabaklobby insgesamt wäre auch nur im Geringsten an der europäischen Tabakproduktrichtlinie gescheitert. Vielleicht war sogar der Zeitpunkt der Ankündigung ihrer Entlassung gezielt ausgewählt worden, um von den wesentlich interessanteren Geschehnissen auf europäischer Ebene abzulenken.

Während in Deutschland die neue Gangart des Zigarettenverbandes noch Gesprächsthema ist, spielt sich auf EU-Ebene ohne großes Aufsehen ein Krimi ab. Die EU-Kommission gibt in einer Pressemitteilung den Rücktritt des EU-Gesundheitskommissars John Dalli bekannt, der angeblich in einen Bestechungsskandal verwickelt sein soll. Die Tabaklobby hatte schon seit einem Jahr erfolgreich die Verabschiedung der neuen Tabakproduktrichtlinie verzögert, die bereits im Sommer 2011 unter Dach und Fach sein sollte. Dallis plötzlicher Abgang kommt für die Tabaklobby zu einem äußerst passenden Zeitpunkt, nur eine Woche bevor die neue Tabakrichtlinie der EU abgeschlossen werden soll. Damit wird die neue EU-Tabakrichtlinie nun "auf unbestimmte Zeit" verschoben - noch mehr Zeit für die Tabaklobby, sie abzuschwächen und auszuhöhlen.

Unter der Führung Dallis waren deutliche Einschränkungen für den Verkauf und die Präsentation von Tabakwaren geplant, die Warnhinweise auf den Zigarettenschachteln sollten vergrößert und neutrale Einheitspackungen eingeführt werden. Auch die geplanten Beschränkungen bei der Auslage von Tabakprodukten in den Geschäften und ein generell erschwerter Zugang zu Zigarettenautomaten waren der Tabakindustrie ein Dorn im Auge. Die weit reichenden Maßnahmen zur Einschränkung des Tabakhandels sind sicherlich ein starkes Motiv für die clevere Intrige, die den EU-Gesundheitskommissar so abrupt aus seinem Amt bugsierte.

Natürlich ist selbst das stärkste Motiv noch lange kein Beweis dafür, dass die Tabaklobby tatsächlich etwas mit dem Sturz von John Dalli zu tun hat. Es wird sicherlich noch einige Zeit dauern, bis der Vorfall vollständig aufgeklärt werden kann - sofern das jemals möglich ist. Dennoch wurden bereits etliche die Tabaklobby belastende Fakten bekannt.

Die Umstände, die zum Rücktritt des maltesischen EU-Gesundheitskommissars führten, sind äußerst dubios. Wie das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) dem EU-Kommissionspräsidenten Barroso am 15. Oktober mitteilte, hätte ein maltesischer Geschäftsmann angeblich "im Namen von Dalli" gegen ein Honorar von 60 Millionen Euro "dem schwedischen Zigarren- und Kautabakhersteller Swedish Match angeboten, eine geplante EU-Tabakrichtlinie ändern zu lassen".

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass John Dalli für die expansionshungrige Swedish Match ein enormes Geschäftshindernis darstellte. Der EU-Kommissar wollte in der geplanten Neufassung der EU-Tabakrichtlinie die Einschränkungen des schwedischen Kautabaks "Snus" nicht lockern, der innerhalb der EU ausschließlich in Schweden mit einer Sondergenehmigung vertrieben werden darf. Von Swedish Match kam im Mai 2012 die Beschwerde über EU-Gesundheitskommissar Dalli und dessen angeblichen Korruptionsversuch.

Die Anti-Korruptionsbehörde OLAF bearbeitete den Fall mit außergewöhnlichem Eifer. Während die OLAF-Ermittlungen üblicherweise einige Jahre in Anspruch nehmen, wurde dem EU-Kommissionspräsidenten der Bericht über den angeblichen Korruptionsversuch bereits nach fünf Monaten vorgelegt. Interessanterweise arbeitet das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung seit Jahren unter anderem mit Philip Morris zusammen, was zumindest den Verdacht aufwirft, dass diese Zusammenarbeit das Verfahren im Sinne des Tabakkonzerns beschleunigt haben könnte. Und ganz zufällig ist der Philip-Morris-Konzern seit 2009 Miteigentümer des Snus-Produzenten Swedish Match, von dem die Beschwerde gegen Dalli ausging.

Der OLAF-Bericht ist laut Pressemitteilung der EU-Kommision kein Abschlussbericht, und enthält auch keinerlei "Beweise für eine Beteiligung" des EU-Gesundheitskommissars. Dennoch gibt die EU-Kommission schon einen Tag nach Eingang des Berichts den Rücktritt von John Dalli bekannt. Wie die französische Zeitung "La Tribune" berichtet, überlässt die EU-Kommission anschließend ihren Presseraum in einem völlig "einmaligen Vorgang dem OLAF-Generaldirektor Giovanni Kessler, der die Brüssel-Korrespondenten mit Details zu den Ermittlungen füttert". Die Kontrolle der Ereignisse und der darüber veröffentlichten Informationen liegt also völlig in der Hand der OLAF - einem Kooperationspartner und Empfänger finanzieller Zuwendungen des Philip-Morris-Konzerns.

Ein schriftliches Rücktrittsgesuch des EU-Gesundheitskommissars existiert nicht. Pressevertretern gegenüber äußerte Dalli später, er sei aus seinem Amt "hinausbugsiert" worden. Ein Rücktritt wäre keineswegs seine persönliche Entscheidung gewesen, wie Barroso behauptet hatte. Das übliche förmliche Rücktrittsgesuch wäre ihm verweigert worden.

Der Bericht der OLAF, der zum spontanen Abgang Dallis führte, ist vertraulich und wurde selbst EU-Abgeordneten auf Nachfrage nicht ausgehändigt. Ein Gespräch von Parlamentariern mit OLAF-Chef Kessler hinter verschlossenen Türen brachte keine Klarheit, inwiefern Dalli sich inkorrekt verhalten hätte und warum Christian Timmermans, Präsident des OLAF-Kontrollgremiums plötzlich ebenfalls seinen Rücktritt erklärt hatte.

Die inzwischen zum "Dalligate" herangewachsene Affäre mutierte endgültig zum Krimi, als kurz nach Dallis Amtsenthebung in Brüssel bei drei Nichtregierungsorganisationen eingebrochen wurde, die als erklärte Gegner der multinationalen Tabakkonzerne gelten. In einem professionell durchgeführten Einbruch in dem Brüsseler Bürogebäude wurden von den zwanzig dort residierenden Organisation gezielt diejenigen herausgepickt, die den Tabakkonzernen vorgeworfen hatten, die neue Tabakrichtlinie zu sabotieren.

Bei den drei Nichtraucherschutz-Organisationen wurden Akten durchwühlt und Computer entwendet. Die Organisationen hatten zusammen mit mehreren Krebsbekämpfungsorganisationen einen Bericht über die Machenschaften der Tabakkonzerne in Auftrag gegeben. Der Bericht unter dem Titel "Blockieren, ändern und zeitlich verschieben" umfasst auf mehreren Hundert Seiten eine Analyse der Behinderung der EU-Tabakrichtlinie durch die Tabaklobby.

Laut Florence Berteletti Kemp, Direktorin der vom Einbruch betroffenen European Smoke Free Partnership, wurden gezielt Materialen entwendet, die mit der Affäre um John Dalli zu tun haben. Gegenüber der Tageszeitung "The Guardian" äußerte sie, "was wir hier miterleben ist die größte Behinderung der Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene". Der Hintergrund des Diebstahls in ihren Büros sei ganz klar "der Schauplatz der Politik", der Zusammenhang sicherlich kein Zufall.

In der Tat profitiert die Tabaklobby von den dubiosen Vorgängen nun doppelt. Einmal durch den Abgang Dallis und der daraus resultierenden Verzögerung der neuen EU-Tabakrichtlinie. Und zum Anderen, indem den Befürwortern einer strengeren Tabakrichtlinie die Argumente im Wortsinne gestohlen werden, wodurch deren weitere Tätigkeit massiv behindert wird.


Quellen und weitere Informationen:

Beschwerdeautomat
Anfrage wegen Sponsoring durch die Tabakindustrie (Hochschulen und Forschungseinrichtungen)
Peinliche Werbung mit Philip-Morris-Forschungspreis bitte entfernen
Philip-Morris-Forschungspreis existiert nicht mehr
Aufforderung zur Ablehnung von Ehrungen und Preisen der Tabakindustrie
Anfrage wegen Tabakwerbung in Zeitungen, Zeitschriften etc.
Anfrage wegen Sponsoring durch Tabakindustrie (Verbände und Parteien)
Tabaklobby
Politik
B'90/Grüne
Marianne Tritz
Tabakindustrie
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